Zum Hauptinhalt springen

„Wohin steuert Polen?" oder "Liegt Polen noch in Europa?“

Erstellt von Hans-Jürgen Pohl / Karl-Heinz Kocar | | 2018

Vortrags- und Diskussionsabend

Das Thema des Vortrags- und Diskussionsabends am 11. Januar 2018 im Sendener Hotel Niemeyer hatte der Referent bewusst provokant formuliert: „Liegt Polen noch in Europa?“ Die Deutsch-Polnischen Gesellschaften aus Senden und Lüdinghausen (DPG) hatten gemeinsam den Gießener Privatdozenten Dr. Markus Krzoska, Osteuropahistoriker am Historischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen, als Fachmann für die Einschätzung der derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Situation in Polen eingeladen.

Vor gut 60 Gästen zitierte Krzoska zunächst aus seinem Buch „Ein Land unterwegs: Kulturgeschichte Polens seit 1945“, in dem er schon vor Jahren seine profunden Kenntnisse über unser östliches Nachbarland unter Beweis gestellt hatte. Doch im Mittelpunkt seines Vortrags stand die Bewertung der aktuellen Politik der polnischen Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ („Prawo i Sprawiedliwość“, kurz „PiS“). An zahlreichen Beispielen erklärte er die innenpolitischen Maßnahmen der nationalkonservativen Warschauer Regierung und deren Auswirkungen auf die polnische Gesellschaft und die Rolle Polens in der Europäischen Union. Dabei deckte er viele Widersprüche auf: „Auf der einen Seite geht Warschau seit gut zwei Jahren immer mehr auf Konfrontation mit der EU, auf der anderen Seite ist die absolute Mehrheit der polnischen Bevölkerung froh über die Mitgliedschaft in der EU und möchte diese nicht mehr in Frage stellen.“ Die fragwürdigen Maßnahmen der PiS-Regierung reichen nach seiner Meinung von der Beschneidung der Freiheit nichtstaatlicher Medien über eine Veränderung der Geschichtspolitik bis zur Belebung alter Feindbilder. Andererseits wies Krzoska aber auch auf die Erfolge hin, die der PiS-Regierung ein derzeitiges Umfragehoch von 47 Prozent in der Bevölkerung bescherten. Dies gehe in erster Linie auf soziale Wohltaten zurück, zu denen vor allem ein neu eingeführtes monatliches Kindergeld von umgerechnet 125  € gehöre, und auf den in den Reihen der PiS-Anhänger verbreiteten Eindruck, dass die Ablösung der alten kommunistischen Kader seit 1990 nicht konsequent genug vollzogen worden sei. Außerdem sei die an fortschreitender Globalisierung orientierte Politik der vorausgegangenen liberalkonservativen Regierungen seit den wirtschaftsradikalen Reformen von Leszek Balcerowicz vor allem auf dem Lande als zu kaltherzig empfunden worden. Denn dort habe sie viele "Verlierer" produziert. Für die breite Akzeptanz der nationalkonservativen PiS-Politik sei auch das Fortwirken der Verschwörungstheorie im Zusammenhang mit dem tragischen Flugzeugabsturz von Smolensk verantwortlich, als Polens Präsident Lech Kaczynski und seine Begleiter ums Leben kamen.

In der Diskussion bewegte die Zuhörer allerdings vorrangig die umstrittene Justizreform, die praktisch eine Abschaffung der seit der europäischen Aufklärung bewährten demokratischen Gewaltenteilung bedeutet. Nach Auffassung von Krzoska wird das von der EU dagegen eingeleitete Rechtsstaatlichkeitsverfahren keine Auswirkungen auf die Maßnahmen der Warschauer Regierung haben. Sie fühle sich derzeit schon deswegen in einer starken Position, weil die polnische Wirtschaft boome und es den Bauern materiell sehr gut gehe - wenn auch dank erheblicher Subventionierung aus der EU-Kasse. Zudem hätten andere osteuropäische Staaten bereits ihre Solidarität mit Polen bekundet. Natürlich wurde in der Diskussion auch die Rolle der katholischen Kirche hinterfragt: Der Referent hält die Kirche Polens für gespalten und in großen Teilen mit der PiS sympathisierend, weil sie derzeit kaum charismatische Bischöfe habe. Angesichts der Flüchtlingsbewegungen nach Mitteleuropa - so wurde aus der Zuhörerschaft ergänzt - gebe es überdies nicht nur in den Reihen der Kirchgänger eine zunehmende Angst vor "den Muslimen" und damit vor einer Bedrohung der eigenen kulturellen Identität.

Als Historiker wagte Dr. Markus Krzoska keine Prognosen dazu, wie es in Polen in einigen Jahren aussehen könnte. Doch die provokante Frage am Anfang, ob Polen noch in Europa liege, beantwortete er mit einem klaren Ja! Die Europäische Union müsse mit der Stärkung demokratischer Verfahren und Werte auch (aber nicht nur) Polen davon überzeugen, dass es einen besseren Weg als den nationaler Abschottung gebe – und das vor allem ohne erhobenen Zeigefinger, vor allem seitens der besonders skeptisch betrachteten Deutschen!

Als Vorsitzender der DPG Senden machte Hans-Jürgen Pohl zum Abschluss deutlich, wie wichtig derzeit die Fortsetzung und Vertiefung der partnerschaftlichen und freundschaftlichen Verbindungen zu den Kommunen und Menschen in Polen sei. Und das trotz einer zunehmend kritischen Haltung (und Angst) der PiS gegenüber einem wirtschaftlich starken Deutschland innerhalb der EU.

Karl-Heinz Kocar, Vorsitzender der DPG Lüdinghausen, ließ es sich nicht nehmen, gerade jetzt auf die Bedeutung des 25-jährigen Jubiläums der Städtepartnerschaft von Lüdinghausen mit dem schlesischen Nysa/Neisse hinzuweisen. Das Jubiläum wird am 29. September in Lüdinghausen gefeiert, wozu Kocar auch Vertreter der DPGs Senden und Nottuln einlud.

Zurück